*Lesetipp*Zur aktuellen Situation aus anarchistischer Perspektive

  • December 9, 2020 18:38

Ein gelungener Versuch einer Bestandsaufnahme der aktuellen Situation aus der Sicht von Anarchist*innen (Dezember 2020) aus Revolte.blackblogs.org

Es wird immer behauptet, dass Alle potentiell im gleichen Ausmaß von
„dem Virus“ bedroht sind, dass jetzt Alle zusammenhalten müssten. Dass
es keine Unterschiede bei der Ansteckung gäbe, es würden die Reichen
genauso krank und sterben, wie es die Armen tun würden. Das ist eine
Lüge und war es auch schon immer.
Wir versuchen hier eine kleine „Bestandsaufnahme“ der aktuellen
Situation in Österreich vorzunehmen, denken aber, dass sie auch darüber
hinaus zumindest für den deutschsprachigen Raum zutreffend und evtl.
hilfreich sein könnte. In Anbetracht der Gewissheit, dass die „Krise“
nicht nach der Verteilung eines Covid19-Impstoffs vorbei sein wird und
vor allem eine wirtschaftlich (aber auch politisch) harte Zeit für die
Ausgebeuteten bevorsteht. Und in der Gewissheit, dass in jedem Moment
der Geschichte Widerstand und Rebellion vorhanden waren und sind.
Kultivieren wir sie!

Umverteilung nach Oben

Abstand zu anderen halten und zu Hause bleiben zu können, ist ein
Privileg, das Vielen von dieser Gesellschaft entzogen wird: in den
Knästen, Kliniken, Schulen und Fabriken gibt es kaum die Möglichkeit
dazu. Obdachlose können nicht zu Hause bleiben, weil sie keins haben.
Oft ist es in Zeiten der Pandemie das gehobenere Gesellschaftssegment,
das daheim bleibt zum Arbeiten und weiter Geld verdient. Aktuell ist der
größte Teil der Lohnabhängigen beispielsweise in der Gastronomie und im
Tourismusbereich zu Hause und sind durch die oft beschissenen
Anstellungsverhältnisse nicht mal berechtigt, Arbeitslosengeld zu
beziehen und paradoxerweise zu einem guten Teil dadurch auch nicht
krankenversichert. Verschiedene Statistiken, die sich mit den
ökonomischen Realitäten bezüglich der Coronakrise auseinandersetzen,
kommen alle zu dem selben Schluss: dass es etliche Gewinner*innen gibt –
diejenigen, die schon zuvor mehr als genug hatten, gehen mit jedem Tag
reicher aus der Krise hervor. Unterschiede im Einkommen haben sich schon
immer auf die Lebensqualität und die Lebenserwartung niedergeschlagen,
das ist eine Binsenweisheit. Warum sollte sich das auf einen Schlag im
Jahr 2020 geändert haben – wo sich doch die politischen und
wirtschaftlichen Verhältnisse kontinuierlich zuspitzen?

Einzige Lösung: Impfung?

Die einzige Lösung, die uns der Staat und die Wissenschaft für den
Umgang mit der Pandemie anbieten, ist zu warten bis ein Impfstoff auf
dem Markt ist und dann den größten Teil der Bevölkerung zu impfen. Dabei
steht sich der demokratische Staat nach den eigenen Prinzipien zum Teil
selbst im Weg. Denn nachdem laut Gesetz ja „Alle gleich seien“, hätten
auch Alle den gleichen Anspruch auf eine Impfdosis, die das Leben retten
soll. Nun wurde allerdings heftig diskutiert, wer zuerst geimpft werden
soll. Wenig überraschend soll damit zuallererst mit der „kritischen
Infrastruktur“ begonnen werden, die unumgänglich für das weitere
Funktionieren dieser Gesellschaft ist: Ärzt*innen und generell
Gesundheitspersonal, Polizei und staatliche Strukturen, usw. Oder eben
auch jene, die das nötige Kleingeld haben – auch wenn das zumindest
keine offen ausgesprochene Wahrheit ist. Aber so funktioniert diese Welt
eben. Ich finde dazu vor allem ein aktuelles Zitat eines Politikers aus
Deutschland sehr aussagekräftig und lasse es daher für sich selbst
sprechen: „Wir verteilen Lebenschancen mit den Impfdosen und die sind
eben begrenzt“. Wie alles andere auch wird im Kapitalismus Gesundheit
und Krankheit zu einer Ware umgewandelt, die verkauft werden kann.
Angenommen, die erste Knappheit des Impfstoffs ist überwunden. Um in
dieser Logik einen wirksamen Schutz gegen das Virus zu erlangen, müssen
große Teile (der Großteil) der Bevölkerung geimpft werden, was die viel
zitierte „Herdenimmunität“ zur Folge haben soll. Dagegen gibt es bereits
jetzt Widerstand aus der Bevölkerung aufgrund unterschiedlicher
Faktoren. Einerseits ist da eine große allgemeine Skepsis gegenüber
Impfungen, die in den aktuellen allseits bekannten Debatten um die
„Impfpflicht“ natürlich genährt werden und zum Teil sicher auch
verschwörungstheoretische Elemente beinhaltet. Andererseits gibt es natürlich auch medizinische Bedenken gegen einen Impfstoff, der durch
ein Eilverfahren auf den Markt geworfen werden soll und zu dem es keine
Langzeitstudien gibt – und zu dem wenig bis nichts über Nebenwirkungen,
Wechselwirkungen und andere Schädigungen bekannt ist. Normalerweise
braucht ein Impfstoff durchschnittlich etwa zehn Jahre an Tests und
Untersuchungen, um schlussendlich auf dem Markt zugelassen zu werden und
so die Langzeitfolgen bestimmen zu können. In diesem Fall soll das nun
innerhalb eines knappen Jahren nach Auftreten des Virus geschehen. Die
Skepsis ist also nicht unbedingt unbegründet. Wie auch immer: es werden
sich nicht Alle freiwillig impfen lassen und damit ist in gewisser Weise
auch das staatliche Monopol auf den „richtigen“ Umgang mit der Pandemie
bedroht, was sich auch schon an der – sagen wir überschaubaren –
Beteiligung an den Massentests im Moment ausdrückt.
Mit Sicherheit wird das Prinzip von Zuckerbrot und Peitsche auch in
diese Richtung angewandt werden. Es ist sehr wahrscheinlich, dass es
zukünftig Bereiche geben wird, in die man ohne Impfnachweis gar nicht
eintreten darf (Krankenhäuser, bestimmte Betriebe, Flugzeuge, Fernzüge,
…). Auch wird bereits über bestimmte Einreisebestimmungen in Staaten
diskutiert, ähnlich wie es aktuell mit den Einreisebeschränkungen
aufgrund der Fallzahlen gehandhabt wird. Noch ist das (meiste davon)
Zukunftsmusik, sicher ist aber, dass „Anreize“ geschaffen werden sollen,
sich „freiwillig“ impfen zu lassen, wenn es denn unter Zwang nicht gehen
sollte. Und das kann eben von einem Jobangebot (oder -verlust) mit
besserem Verdienst über die Möglichkeit zu reisen bis hin zu bestimmten
Freizeitmöglichkeiten reichen, welche ohne Impfung nicht mehr möglich
sein könnten.

Wirtschaftsnationalismus

Bereits während des ersten Lockdowns im April 2020 hat sich das
neue/alte Gesicht der Wirtschaft offenbart: Die Knappheit steigert den
Preis. Damals ging es ähnlich wie heute um den vor allem in Ländern wie
Österreich und Italien enorm wichtigen Faktor Tourismus. Und in der
jetzigen Diskussion um den Wintertourismus und die Öffnung der
Skigebiete sieht es ähnlich aus: die Staaten „bekriegen“ sich
gegenseitig auf wirtschaftlicher Basis durch immer neue
Einreisebeschränkungen und Quarantäneregeln, die es Tourist*innen aus
den Nachbarländern faktisch unmöglich machen, einzureisen oder ohne
größere Probleme wieder auszureisen. Es geht natürlich nach wie vor um
den Standortvorteil der einzelnen Länder und darum, möglichst lange
auszuharren und durchzuhalten, damit die Anderen vorher wirtschaftliche
Einbußen haben und man selbst nachher finanziell besser dasteht und
gegenüber den Anderen noch ein Ass im Ärmel hat. All das war von Anfang
an von teils nationalistischen Kampagnen begleitet, die zum „shoppen
daheim“ und zum Geldausgeben für die „eigene“ Wirtschaft aufgerufen
haben. Begleitet von Populismus und Maßnahmen zur Ankurbelung der
Wirtschaft von Seiten der Politik. Alles nichts neues. Dabei handelt es
sich lediglich um die nächste logische Konsequenz, die sich daraus
ableitet, wie diese Wirtschaftsordnung funktioniert und die Gesellschaft
strukturiert ist. Auch die sowohl nationalen als auch globalen
Klassenverhältnisse haben sich nicht grundsätzlich verändert, es lässt
sich lediglich eine weitere Verschärfung beobachten (die Schere zwischen
Arm und Reich, globaler Norden und globaler Süden, Produktion vs.
Dienstleistungen, …), die auch nicht überraschend ist.

Grenzen

Nationalstaatsgrenzen waren auch vor dieser Pandemie bereits recht
willkürlich gezogen und sind eben von den Staaten umkämpftes
Territorium. Im Moment zeigt sich einmal mehr, was tatsächliche
Reisefreiheit genießt: das Kapital und seine Waren. Für Menschen gibt es
wie immer Begrenzungen und Einschränkungen bezüglich des Übertritts
einer Grenze. Sei dies durch das Fehlen eines bestimmten Passes, durch
(rassistisch) motivierte Grenzkontrollen oder eben nun durch die
Einreise aus einem „Risikogebiet“. Auch wenn die Konsequenzen durchaus
unterschiedlich (hart) sein können, erleben nun doch zum ersten Mal
ganze Generationen von „EU-Bürger*innen“ zum ersten Mal in ihrem Leben
eine gewissen Einschränkung ihrer „Bürger*innenrechte“ und das
verunsichert natürlich Viele. Dass Viren (übrigens genauso wenig wie
nukleare Strahlung, Treibhausgase, Biowaffen, …) wohl kaum an
willkürlichen Grenze stehen bleiben, brauche ich nicht zu betonen. Die
Staaten kontrollieren lediglich weiterhin „ihr“ Territorium und
verschärfen eben im Moment das Regime. Das ist eben eine der wenigen
Möglichkeiten, die Staaten haben: die Ein- und Ausreise zu überwachen.
Ändern wird das in dieser Hinsicht freilich nichts.
Anstatt nun den logischen Schritt zu machen, Grenzen als solche und
damit die staatlichen Befugnisse generell in Frage zu stellen, versuchen
die „Bürger*innen“ ihre „Rechte“ geltend zu machen und sich oft auch
gegenüber Anderen weiter abzugrenzen, die es noch beschissener erwischt
haben (Geflüchtete). Dieses soziale Phänomen trägt weiter zu der
Abwärtsspirale bei und treibt jene „Bürger*innen“ zu Scharen in die
ideologischen Hände von Autoritären jeglicher Art.

Der staatliche Umgang: Aufstandsbekämpfung & Befriedung

Was wir seit dem Beginn der Pandemie und aller damit verbundenen
Konsequenzen vor einem knappen Jahr erleben, kann auf medizinischer
Ebene lediglich als totales Versagen des Staates beschrieben werden.
Durch die weiter voranschreitende Rationalisierung (und dadurch oft
Privatisierung) von Angelegenheiten der öffentlichen Hand wie
beispielsweise im Pflegebereich, in den Krankenhäusern und in der
Verwaltung wurde die letzten Jahrzehnte immer mehr eingespart und
dadurch wichtige Infrastruktur (wie die vielgerühmten „Intensivbetten“)
systematisch weggespart. Diese fehlen natürlich jetzt. Man könnte sagen,
dass das die generelle Entwicklung der letzten Jahrzehnte war, aber auch
wenn wir uns lediglich die Entwicklung seit dem ersten Lockdown im
März/April 2020 bis heute ansehen, haben alle staatlichen Strukturen
versagt (mit Ausnahme des scheinbar perfekt funktionierenden
Repressionsapperats). In den mehr als 7 Monaten zwischen beiden
Lockdowns hat es der Staat nicht einmal ansatzweise geschafft, mehr
Geld, mehr Krankenhausbetten, mehr Rettungs- und Pflegepersonal usw. zur
Bekämpfung der Pandemie zur Verfügung zu stellen. Er hat es
weitestgehend nicht geschafft, neue Konzepte zum damit verbundenen
Umgang zu entwickeln. Man denke dabei nur an das Chaos des
Schulunterrichts oder die fehlenden Konzepte bezüglich der Lohnarbeit.
All das wurde und wird nach wie vor auf die nächst tiefere Ebene
abgewälzt, also vom Gesundheitsamt zu den einzelnen Ressorts, vom
Krankenhausleiter an das Personal. All das funktioniert aktuell nur
durch die massive kostenlose Mehrarbeit, die Arbeiter*innen jeglicher
Branchen leisten (übrigens eines der Merkmale dieser patriarchalen
Gesellschaft, die nur durch – oft „weibliche“ – kostenlose Arbeit
läuft).
Die einzigen nennenswerten enormen Ausgaben, die von Seiten des Staates
gemacht wurden, waren Investitionen in die Aufrechterhaltung der
direkten oder indirekten Ordnung: Polizei, massiver Einsatz des
Bundesheeres für „Contact Tracing“ usw., teilweise soziale
Befriedung/Abwenden der ärgsten finanziellen Not durch Einmalzahlungen
und Sondertöpfe, riesige Werbe- und Imagekampagnen für die herrschende
Regierung, … Und nach mehr als 8 Monaten werden nun als
„Gesundheitssofortmaßnahme“ FFP2-Schutzmasken an Hochrisikopersonen über
65 Jahren verschickt. Na herzlichen Dank!

Um nicht falsch verstanden zu werden: wir erwarten uns nichts von diesem
Staat, der ja doch nur seine eigenen Strukturen und die Wirtschaft
schützen will. Darauf werde ich hier nicht näher eingehen, ich denke
unser Verhältnis zum Staat hat sich in den vergangenen 5 Jahren seit
Bestehen dieser Publikation allzu deutlich gezeigt. Dennoch will ich
hier das Versagen der langsamen und bürokratischen staatlichen Systeme
aufzeigen, um eine andere Perspektive darauf zu eröffnen. Denn die
eigene Unfähigkeit versucht der Staat durch brutale Repression gegen
jegliches eigenverantwortliche Handeln von Anderen zu verschleiern. Und
erstickt dabei alles Andere im Autoritarismus. In angsterfüllten Zeiten
versteht es der Staat stets sehr gut, (vermeintliche) Sicherheit zu
verkaufen. Er zeigt sich somit als das, was er ist und immer war: der
Garant zur Aufrechterhaltung der wirtschaftlichen Ordnung um jeden
Preis. Und in diesem Sinne sind auch die meisten staatlichen Maßnahmen
im Zusammenhang mit dieser Pandemie zu sehen: als
Aufstandsbekämpfungsmaßnahmen.
Hier zeigt sich nun, was unsere sogenannten „Rechte“ und „Privilegien“
die ganze Zeit über waren: Zugeständnisse, die uns jederzeit entzogen
werden können, wenn es die veränderten Umstände erfordern. Und in vielen
Fällen mit wenig bzw. kaum wahrnehmbaren Reaktionen unsererseits.
Plötzlich erfährt eine ganze Generation, was es heißt, wenn die Grenzen
wieder geschlossen werden und eine freie Reisebewegung nicht mehr
möglich ist oder extrem erschwert wird. Was „früher“ nur denjenigen ohne
(die richtigen) Papiere verwehrt wurde, ist längst zum Normalzustand für
Alle geworden. Die Möglichkeit, jederzeit einen halbwegs gut bezahlten
Job zu bekommen, hat sich aufgrund der höchsten Arbeitslosigkeit in
Österreich seit 1945 schlagartig verändert – was vorher ebenfalls
hauptsächlich für Migrant*innen, Asylwerber*innen und nicht- oder
schlechtqualifizierte Arbeiter*innen gegolten hat. Ebenso lichtet sich
für Viele zum ersten Mal in ihrem Leben der Schleier, der zuvor über der
brutalen Realität der Ausbeutung gelegen hatte und nun fortgerissen
wird. Unsere erwünschte Rolle in dieser Gesellschaft zeigt sich nicht
zuletzt daran, was während eines Lockdowns erlaubt ist: zur Arbeit
gehen, arbeiten, zum Supermarkt gehen, einkaufen und maximal einmal eine
Runde um den Block zur physischen Erholung drehen. Arbeiten,
Konsumieren, Sterben. Eine erstaunliche Parallele zum einstündigen
Hofgang in den Gefängnissen. Durch diese „Offenbarung“ und den oben
genannten Entzug von Privilegien verspüren viele „Bürger*innen“ eine
unbestimmte Angst vor der Zukunft. Durch eine teils radikale Wandlung
des Alltags (im negativen Sinne) in weniger als einem Jahr, haben Viele
verständlicherweise das Gefühl, dass der Boden unter den Füßen
weggerissen wurde und wird.

Autoritäre Rattenfänger

Diese (emotionale) Situation nutzen die Rattenfänger aller möglichen
autoritären Strömungen für ihre Agendas und versuchen, die
verunsicherten Leute in ihre Reihen zu rekrutieren oder zu drängen. Ein
üblicher Mechanismus, der historisch immer wieder beobachtbar war. Eine
verunsicherte und verängstigte Bevölkerung lässt sich viel leichter
regieren und kontrollieren. Und in solchen „Extremsituationen“ lassen
sich Leute auch viel leichter auf „extreme“ Lösungsvorschläge ein, die
leider oft autoritärer Natur sind und damit der erwünschten Freiheit
zuwider laufen. Rechte Gruppierung haben vom Beginn der Pandemie an
versucht, einfache (und damit extrem vereinfachende) Lösungen für die
komplexe Realität zu liefern, was ihnen auch mehr oder weniger gut
gelungen ist. Ebenso sind Verschwörungstheorien nichts anderes, als der
unzulängliche Versuch, die Realität „festzuhalten“ und sich selbst und
anderen das Unverständliche verständlich zu machen. Solchen Theorien
folgen vor allem diejenigen, welche auch vor der Pandemie keine
besonders solide Analyse ihrer Umwelt aufgestellt haben – aus welchen
Gründen auch immer. Natürlich gab es die letzten Monate auch für uns
Momente des Schocks, in denen sich die Ereignisse überschlagen haben und
man mit dem eigenen Verständnis der Situation nicht immer gleich
„hinterher kommt“. Jedoch überrascht uns kaum eine der staatlichen
Maßnahmen, da wir bereits vor dem pandemischen Ausnahmezustand eine
anti-staatliche Analyse hatten und klar Stellung bezogen haben.
Wie dem auch sei, auch die Linke in all ihren Ausprägungen (auch die
radikale) hat dem bisher nichts Interessantes hinzuzufügen, bzw. dem
rechten Pendant entgegenzusetzen. Ein Teufelskreis, denn durch das
Fehlen von „Antworten“ von Seiten der Linken werden sich noch mehr Leute
der Rechten zuwenden, usw. Man kann den berechtigten, wachsenden Unmut
eines Teils der Bevölkerung nicht – wie es die Linke tut – unbeachtet lassen und sich stattdessen darauf konzentrieren, gegen diejenigen zu
demonstrieren, die diesen Unmut spüren und auf die Straße gehen.
Natürlich halte ich es nicht für sinnvoll, gemeinsam mit organisierten
Nazis, Reichsbürgern und ähnlichem Gesindel die Straße zu teilen oder
sich der FPÖ-Opposition anzuschließen, die jetzt eine neue Chance
wittert. Jedoch wird es einer tieferen Analyse bedürfen und dem
Aufzeigen eigener Ansätze, um mit der komplexen Realität umzugehen. Und
das Befürworten von staatlichen Repressalien gegenüber diesen
„Coronazis“ ist auch nur das was es ist: das Befürworten von staatlichen
Repressalien. Auch wenn die Linke nun zum ersten Mal das Gefühl hat,
dass es „die richtigen getroffen hat“.

Klassenkampf von Unten

Wir sind Anarchist*innen. Das heißt wir kämpfen gegen jede Form der
Unterdrückung und für eine Welt, in der Alle ihr Leben frei leben
können. Wir haben kein Programm, dass man wählen kann und keine
Petition, die man unterschreiben kann. Wir wollen nicht, dass die Leute
unserer Fahne nachlaufen, denn wir haben keine. Was uns in der jetzigen
Situation interessiert, ist vielmehr die Frage, ob es anti-autoritäre
Perspektiven schaffen können, in diesem gesellschaftlichen Gewirr klar
Position zu beziehen und damit dem immer autoritärer werdenden Staat und
den Rechten etwas wirkungsvolles entgegen zu setzen. Denn aktuell ist
die „Fahrtrichtung“ dieser Gesellschaft nicht gerade berauschend in
diesem Sinne. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Proteste gegen die
Regierung und ihre Maßnahmen uninteressant für uns sein sollten, weil
auch Nazis & Co. gegen die Regierung protestieren. Man könnte sagen,
dass Anarchist*innen „traditionell“ sehr gut bei jeder Form von
Widerstand gegen die Regierung aufgehoben sind. Ich denke es kann also
durchaus sinnvoll sein, zu den bereits stattfindenden Demos, usw. zu
gehen und eigene Positionen zu verbreiten – auf welche Art auch immer.
Dabei finde ich es wie bereits erwähnt wichtig, eigene antiautoritäre
Positionen herauszuarbeiten, um nicht in der Masse derer unterzugehen,
mit denen man womöglich inhaltlich große Probleme hat. Oder um nicht von
ihnen instrumentalisiert zu werden, ohne es womöglich überhaupt zu
bemerken. Dennoch ist meiner Meinung nach das Beste, was in der
aktuellen Situation unternommen werden kann, eigene Kämpfe zu entwickeln
und zu verschärfen.
Dazu ist es unerlässlich, die sich beinahe täglich verändernden Umstände
durch eine klassenbewusste Perspektive zu betrachten und so zu
analysieren, was hier von statten geht. Es stimmt natürlich, dass die
(heilige, vermeintlich unantastbare) Wirtschaft direkt oder indirekt
alle Lohnabhängigen „ernährt“ und daher die Lohnabhängigen auch direkt
oder indirekt vom Funktionieren dieser Wirtschaft abhängig sind. Dies
jedoch mit zunehmendem Ausmaß, da kaum noch etwas im modernen Leben –
vor allem in Städten – ohne die direkten Konsequenzen einer hoch
technologisierten Wirtschaft funktioniert. Man denke dabei an
Versorgungsketten, Abhängigkeit von Internet und Elektrizität, um die
einfachsten Alltagsdinge zu erledigen, usw. Ich denke, Details können
wir uns hier sparen, ihr versteht was ich meine. Durch die erhöhte
Abhängigkeit wird uns sozusagen auch ein eigenes Interesse in die Schuhe
geschoben, dass es der Wirtschaft gut gehen solle. Wo doch genau jener
wirtschaftliche Druck unser Leben reguliert und uns die Luft raubt. Um
ein wirklich freies Leben führen zu können, müssen wir uns von dieser
Wirtschaft lösen – schlussendlich heißt das natürlich, dass das
kapitalistische System zerstört werden muss und noch tiefgreifender die
Logik des Tauschens von Waren im Sinne der Steigerung des Profits. Und
dazu müssen wir eigene Strukturen aufbauen, um uns mit dem nötigsten zu
versorgen, uns gegenseitig zu unterstützen und uns unabhängiger von den
staatlichen, gesellschaftlichen, technologischen Strukturen zu machen –
soweit dies eben möglich ist. Wir haben also keinen „neuen“ Vorschlag,
sondern lediglich das, was wir schon immer vertreten haben: Revolte,
Sabotage und Subversion gegen alles was unser freies Leben behindert.
Was uns dabei im Moment helfen kann sind einerseits der Aufbau (und die
Pflege!) von rebellischen Beziehungen und Strukturen, in denen wir uns
materiell, emotional und kämpferisch gegenseitig unterstützen können.
Und andererseits braucht es dazu einen Schuss Mut, um die Gebiete des
Kampfes zu betreten, die vermeintlich oder tatsächlich von unseren
Feinden dominiert werden.

Richtung Totalitarismus oder Richtung Freiheit?

Die neue (permanente) Realität hat eine Wendung genommen: vom
vermeintlichen Leben zum lediglichen Überleben um jeden Preis. Darüber
gibt es zweifellos großen Unmut. Eine der großen Fragen für die Zukunft
wird sein, ob sich dieser Unmut im Sinne der Herrschaft kanalisieren
lässt oder sich in Richtung des chaotischen, dezentralen Kampfes für
Freiheit bewegen wird. Und darauf können wir Einfluss nehmen und mit
unseren konfrontativen Vorschlägen und Attacken unseren Teil dazu
beitragen, den Kampf in eine interessantere Richtung zu schieben. Es ist
dies eine Chance, die wir auf alle Fälle nutzen sollten.

Was wir jetzt erleben ist eine Restrukturierung der kapitalistischen
Realität und dadurch die Fortführung des brutalen Krieges zwischen dem
Kapital und dem Leben. Und in Zeiten wie diesen, in denen die
politischen Entwicklungen und der Alltag so verdammt lähmend wirken und
wir oft genug das Gefühl bekommen, wenig erreichen zu können, ist es
enorm wichtig zu betonen: das Kapital lässt sich mit einfachen Mitteln
überall identifizieren und angreifen, wenn wir nur gewillt sind, es
anzugreifen…
Das hat sich durch die Pandemie in keinster Weise geändert.

Anarchist*innen im Dezember 2020

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